Irina Palm

irina_palm01.jpgRund 40 Jahre ist es her, dass Marianne Faithfull als glamouröses It-Girl der Swinging Sixties und als Geliebte von Mick Jagger Schlagzeilen in der Boulevardpresse machte. Mit dem Rolling-Stones-Song „As Tears go by“ und weiteren Singles profilierte sie sich auch als Sängerin, wobei der Song „Sister Morphine“ programmatisch für ihr tiefes Abgleiten in den Drogensumpf stehen mag. Ein Relikt dieser dunklen Zeit und etlicher Zigaretten ist ihre raue und tiefe Stimme, die den Stil ihrer späteren Alben prägte – am bekanntesten dürfte wohl „Broken English“ sein, ihr Comeback-Album von 1979. Ihre Karriere als Filmschauspielerin blieb hingegen weitgehend unbemerkt, obgleich sie durchaus gewichtige Rollen innehatte, etwa die Ophelia in Tony Richardsons „Hamlet“ von 1969 oder die Königinnenmutter Maria Theresia in „Marie Antoinette“ von 2006.

Bei der Uraufführung von „Irina Palm“ im Februar 2007 erhielt Marianne Faithfull für ihre Rolle der Maggie 20 Minuten lang Standing Ovations. Sie spielt eine unscheinbare Hausfrau und Witwe, deren einziger Lebensinhalt die Fürsorge für ihr krebskrankes Enkelkind ist – zur Begleichung der Arzt- und Therapiekosten hat sie bereits ihr Haus verkauft. Als sich herauskristallisiert, dass nur eine wiederum mit hohen Kosten verbundene Behandlung in Australien den Jungen vermutlich retten kann, läuft sie verzweifelt durch die Stadt auf der Suche nach neuen Geldquellen. Ein Schild, auf dem ein Sexclub eine „Hostess“ sucht, erregt ihre Aufmerksamkeit – Sexclub-Besitzer Miki klärt sie aber schnell darüber auf, dass es keineswegs um harmloses Teekochen geht, sondern dass es ihre Aufgabe wäre, Männer, die ihren Schwanz durch ein Loch in einer Kabinenwand – ein sogenanntes Glory Hole – stecken, mit der Hand zu befriedigen. Maggie sieht in der sie zunächst abstoßenden Tätigkeit die letzte Chance, ihren Enkel zu retten, und willigt ein.

Irina Palm: Marianne Faithfull
Maggie mit Kittelschürze am neuen Arbeitsplatz.

„Ich war in diesem Film keine einzige Sekunde lang Marianne Faithfull“, sagt Marianne Faithfull über ihre Rolle, und das stimmt natürlich auch. Schon rein äußerlich liegen Welten zwischen der mausgrauen Maggie und der erfolgreichen Sängerin Marianne, die ihre Jugendschönheit zwar natürlich längst eingebüßt hat, aber nichtsdestotrotz eine attraktive Frau mit charismatischer Ausstrahlung ist. Unbestreitbar ist aber auch, dass gerade der Gegensatz zwischen Darstellerin und Dargestellter einen gewissen Reiz des Films ausmacht, mit dem die Dialogregie auch spielt – etwa, wenn der Besitzer des Sex-Etablissements Miki sie mit einem „Sie haben sicher noch nie in ihrem Leben ‚ficken‘ gesagt“ zu provozieren versucht und man sich vergegenwärtigt, dass Marianne Faithfull mit dem Satz „Get out of here, you fucking bastard!“ im Michael-Winner-Film „I’ll Never Forget What’s’isname“ von 1969 eine kleine Randnotiz zur Filmgeschichte beigetragen hatte: Es war der erste Mainstream-Film überhaupt, in dem ebendieses Wörtchen zu hören war.

„Irina Palm“ ist eine großartige Tragikomödie geworden, die ganz auf leise Töne setzt – zum Glück wird weder das Schenkelklopfpotenzial, das dem Sujet innewohnt, ausgereizt, noch erliegt der belgische Regisseur Sam Garbarski der Versuchung, mit expliziten Darstellungen einer Realitätsnähe nachzujagen, die hier nur deplatziert wirken und von der Story ablenken würde. Man muss sogar die Raffinesse bewundern, mit der mal eine Vase, mal ein Rücken den eigentlichen Kern von Maggies neuer Tätigkeit verdeckt. Umso mehr Aufmerksamkeit wird Maggies Entwicklung geschenkt, denn natürlich geht es in „Irina Palm“ letztendlich um einen Individuationsprozess: Konfrontiert mit einer gänzlich anderen Welt stellt Maggie mehr und mehr die Normen und Spielregeln ihres bis dato zurückgezogenen Daseins infrage. Sucht sie anfangs noch ihre neue Tätigkeit vor ihren Bekannten zu verheimlichen, macht es ihr schlussendlich sogar Spaß, ihre Bridge-Runde mit der Wahrheit zu schockieren – die natürlich, nach Stillen der ersten Sensationsgier, mit brüsker Ablehnung reagiert.

Irina Palm: Miki Manojlovic, Marianne Faithfull
Maggie und Miki: das Glück einer zarten Romanze.

Man verzeiht es dem Film gerne, dass die Tristesse der Arbeitersiedlung und das heruntergekommene Milieu von Londons Soho letztlich nur Kulissen sind für einen Handlungsverlauf, wie er zuckerweicher nicht sein kann: Selbst der auf den ersten Blick reichlich abgefuckte Miki entpuppt sich als melancholisches Raubein mit Herz, so dass Maggie im Sexclub nicht nur das Geld für die Behandlung ihres Enkels zusammenbekommt, sondern auch das Glück einer zarten Romanze findet. So ist „Irina Palm“ letztlich gelungenes Wohlfühlkino, welches unter der Flagge des Autorenfilms direkt in unsere Herzen segelt.

Irina Palm, Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Luxemburg 2007; Regie: Sam Garbarski; Darsteller: Marianne Faithfull (Maggie), Miki Manojlovic (Miki), Kevin Bishop (Tom), Siobhan Hewlett (Sarah), Dorka Gryllus (Luisa), Jenny Agutter (Jane), Corey Burke (Ollie), Meg Wynn Owen (Julia), Susan Hitch (Beth), Flip Webster (Edith), Tony O’Brien (Shopkeeper), Jules Werner (Doctor) u.a. – Farbe, 99 min, FSK 12.


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