Der Rattengott (OT: Izbavitelj); Regie: Krsto Papic; Jugoslawien, 1976.
Darsteller:
Ivica Vidovic (Ivan Gajski), Mirjana Majurec (Sonja Boskovic), Relja Basic (Bürgermeister), Fabijan Sovagovic (Professor Martin Boskovic), Ilija Ivezic (Polizeichef), Branko Spoljar (Rupcic), Edo Perocevic (Polizist), Zdenka Trach (Gazdarica), Fahro Konjhodzic (Violinist), Ana Hercigonja (Zimmerwirtin), Boris Festini (Apotheker), Jadranka Matkovic (Sekretärin des Bürgermeisters) …
Inhalt:
Petersburg, Anfang der 20er Jahre: Das Land steckt in einer Wirtschaftskrise, und die Menschen haben kaum genug zum Leben. Ivan Gajski, ein junger Schriftsteller, verkauft seine letzten Bücher auf dem Markt und lernt dort die zauberhafte Sonja kennen, in die er sich sofort verliebt. Als ihn seine Vermieterin vor die Tür setzt, folgt er dem Tipp eines befreundeten Parkwächters und quartiert sich in einem verlassenen Bankgebäude ein. Dort beobachtet er in der Nacht ein ausschweifendes Gelage einer verschworenen Gesellschaft, deren Aussehen und Gehabe an Ratten denken lässt. Von Professor Boskovic, dem Vater von Sonja, erfährt er von einem alten Buch mit dem Titel „Das Vermächtnis des Rattenkönigs“, in dem es heißt, Ratten könnten sich in Menschen verwandeln, um die Menschheit zu vernichten. Gemeinsam tritt man an, den „Rattengott“ und sein Gefolge zu vernichten …
Kritik:
„Der Rattengott“ ist eine Verfilmung von „Der Rattenfänger“, einer Erzählung des russischen Schriftstellers Alexander Grin, welcher sich zu Lebzeiten als Vagabund, Goldwäscher, Matrose und Fischer durchschlug. Wie der Filmheld Ivan nächtigte Grin tatsächlich zeitweise in einer leerstehenden Bank (durch die die Ratten huschten); und auf einem Markt, wo er seine letzten Bücher verkaufte, lernte er seine zukünftige Frau kennen. Seine Novelle von der allmählichen Unterwanderung der Menschheit durch Ratten in Menschengestalt ist eine fast prophetische Parabel auf den Faschismus, der besonders in Krisenzeiten zu seiner stärksten Form aufläuft.
Bereits im Vorspann lässt Krsto Papic die Kamera über Wandgemälde dämonischer Gestalten und Fratzen gleiten und stimmt ein auf eine Atmosphäre, die eher beklemmend, diffus, bedrohlich ist als dass sie von einem realen und greifbaren Schrecken bestimmt wäre. Meisterhaft zeichnet er das entbehrungsreiche Leben der Stadt Petersburg der Nachkriegszeit nach, skizziert detailreich den ärmlichen Markt, auf dem jeder versucht, seine letzten Habseligkeiten in klingende Münze zu verwandeln. Bei einer Rede des Bürgermeisters zoomt er langsam über die Gesichter der Zuschauermenge, in denen Armut und Verbitterung geschrieben steht. Auch die Szenen in der leerstehenden Zentralbank, einst Symbol von Macht und Stabilität, nunmehr ein kafkaeskes Chaos aus verstaubten Möbeln, herumfliegendem Papier und endlosen Fluren, sind von fast schon surrealer Qualität.
Auch wenn kein Darsteller besonders herausragt, ist die Besetzung bis in die liebevoll ausziselierten Nebenrollen sehr gut; man freut sich über treffsicher auf den Punkt gebrachte Szenen wie etwa, als Ivan versucht, sein Manuskript an den Mann zu bringen, und der Zeitschriftenredakteur in seinem Beisein ungerührt einen Brief über die erbärmlichen räumlichen Zustände der Redaktion diktiert. Unmerklich wird dann die Spannungsschraube angezogen, und unversehens befindet man sich in einem Horrorfilm, der zwar eher auf subtile Effekte setzt – die dezenten Masken der Rattenmenschen lassen teils nur erahnen, dass mit ihnen etwas „anders“ ist –, jedoch auch gerne Klischees des Genres bemüht wie das zischende und blubbernde Labor des Professors. Richtig heftig wird es allerdings nie, die alte FSK-18-Freigabe scheint eher einigen (durchaus gefällig eingebrachten und stimmigen) Nudity-Szenen geschuldet zu sein.
Vielleicht eine der stärksten Szenen ist ein Besuch von Ivan und Sonja in einer Kneipe, in der es mit Musik und Tanz sehr turbulent zugeht – im krassen Gegensatz zur bleiernen Depression, die sonst über der Stadt liegt. Unmerklich geht die Kamera aus der Totalen über in einen subjektiven Blickwinkel, scannt die Szenerie gleichsam ab und stellt das unnatürlich Fratzenhafte, krankhaft Rauschhafte aus Ivans Sicht in die Aufmerksamkeit des Betrachters. Es ist der Moment, in dem Ivan seine Isolation erkennen muss, in dem er wahrhaben muss, dass er praktisch keinem mehr trauen kann. Der Soundtrack verstärkt das Fluidum der Paranoia, indem oftmals nur die einsamen, hallenden Schritte der Protagonisten durch die leergefegten Gassen zu vernehmen sind.
Leider kann der Film sein hohes Niveau nicht über die gesamte Laufzeit halten, in der zweiten Hälfte werden, obgleich die dichte und gute Atmosphäre weitgehend gehalten wird, doch grobe Inszenierungsmängel sichtbar. Allzu offensichtlich versucht Papic Tempo in den Film zu bringen, indem ständig von einem Schauplatz zum anderen gewechselt wird – permanent ist Ivan in Bewegung, ohne dass dies die Handlung nennenswert vorantreibt. Hinzu kommen – speziell dort, wo von der literarischen Vorlage abgewichen wird – teils eklatante Schwächen des Skripts zum Vorschein. So verwandeln sich nicht nur Ratten in Menschen, sondern diese Rattenmenschen haben ihrerseits die Gabe, normale Menschen zu ihresgleichen zu machen: dies aber wiederum nicht im Sinne einer Verwandlung, sondern indem ein „rättischer“ Doppelgänger von ihnen erzeugt wird. Das schwächt Plot wie politische Parabel ohne Not ab und erzeugt einigermaßen Konfusion, offenbar lediglich mit dem Ziel, das sattsam bekannte Horrorfilmklischee zu bedienen, dass man im Ungewissen darüber ist, ob man es gerade mit der guten oder der bösen Version einer Person zu tun hat. Zudem fixiert sich die Handlung zu sehr auf die Kernfrage, wer sich denn nun hinter dem allmächtigen Rattengott verbirgt – um diese dann so wenig überraschend aufzulösen, dass man fast schon wieder überrascht ist ob der Chuzpe des Skriptschreibers, tatsächlich die offensichtlichste Variante zu wählen.
Trotz der genannten Schwächen stellt „Der Rattengott“ einen eindrucksvollen, inspirierten, sehr eigenständigen und absolut sehenswerten Beitrag des damaligen Ostblockstaates Jugoslawien zum Horrorfilmgenre dar. Insbesondere das ganz im Geiste von Alexander Grin – der den „Rattenfänger“ als delirierenden Fieberwahn eines nervlich zerrütteten Protagonisten anlegte – gestaltete Ende, das die vorangegangenen Ereignisse kurz vor dem Abspann nochmals in ein gänzlich anderes Licht taucht, versöhnt einen wieder mit dem leicht unausgegoren wirkenden Mittelteil.
Seinen Kultstatus verdankt der Film nicht zuletzt seiner Seltenheit: Er wurde nur einmal 1982 im Rahmen der ZDF-Fernsehreihe „Der phantastische Film“ gezeigt, und das längst vergriffene Videoband von C&T wird auf Filmbörsen zu Mondpreisen gehandelt (Nachtrag 10.11.2013: Mittlerweile hat ’84 Entertainment den Film auf DVD herausgebracht).