Das Testament des Dr. Cordelier (OT: Le Testament du Docteur Cordelier); Regie: Jean Renoir; Frankreich, 1959.
Darsteller:
Jean-Louis Barrault (Dr. Cordelier / Opale), Teddy Bilis (Maître Joly), Sylviane Margollé (das kleine Mädchen), Michel Vitold (Dr. Lucien Séverin), Jacques Danoville (Kommissar Lardaut), André Certes (Inspektor Salbris), Jean-Pierre Granval (Hotelchef), Céline Sales (erstes Mädchen), Ghislaine Dumont (Suzy), Madeleine Marion (Juliette), Didier d’Yd (Georges), Primerose Perret (Mary), Raymond Jourdan (Behinderte), Jaque Catelain (Botschafter), Régine Blaess (Frau des Botschafters) …
Inhalt:
Der in der Öffentlichkeit angesehene Arzt und Wissenschaftler Dr. Cordelier birgt ein düsteres Geheimnis. Der Mediziner arbeitet an einem Serum, welches die menschliche Seele sichtbar machen soll. Ein Selbstversuch bringt das Primitive seines Wesens zum Vorschein. Cordelier verwandelt sich in einen Menschen, der nur seinen Instinkten folgt und seinen Gelüsten frönt, Losgelöst von allen gesellschaftlichen Zwängen terrorisiert ‚Opale‘, wie er sich selbst nennt, ganz Paris. Durch das Fehlen jedweder Gewissensbisse schreckt Opale auch vor Mord nicht zurück. Als Cordelier versucht, sich selbst wieder unter Kontrolle zu bekommen, muss er mit Entsetzen feststellen, dass er nur noch ein Gefangener im eigenen Körper ist …
Kritik:
Die kreative Ader wurde Jean Renoir (1894-1979) schon in die Wiege gelegt, war er doch Sohn des bedeutenden Maler-Impressionisten Auguste Renoir. Der Filmregisseur, der vor allem durch sein Antikriegsdrama „Die große Illusion“ von 1937 bekannt wurde, galt später als wichtiger Vertreter des poetischen Realismus. Seine Adaption der Novelle „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ von Robert Louis Stevenson gilt neben der Verfilmung durch Rouben Mamoulian von 1931 als gelungenste und interessanteste Interpretation des klassischen Stoffs.
Renoir änderte wenig am Impetus der Geschichte, verlegte sie aber vom London des 19. Jahrhunderts ins zeitgenössische Paris und änderte die Namen der Hauptfiguren in Dr. Cordelier (Jekyll) bzw. Opale (Hyde). Als moderne Moritat ist die Fernsehproduktion bewusst künstlich angelegt, hat zeitweise dokumentarischen Charakter, verstärkt durch eine Einleitung von Renoir selbst, gesprochen im Fernsehstudio, die über die Studiomonitore in den eigentlichen Film überblendet. Die wenigen Drehorte sind geschickt gewählt, indem sie durch symbolhafte Ausstattungsdetails überhöht werden: Auf der einen Seite haben wir das wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten wirkende Herrenhaus von Dr. Cordelier samt ergebener Dienerschaft, das für den Mystizismus steht, dem die Experimente des Doktors letztlich zugrunde liegen. Auf der anderen Seite symbolisiert das Stadthaus seines Antagonisten Dr. Lucien Séverin mit (relativ zu den Spätfünfzigern betrachtet) hypermoderner Architektur und Innenausstattung den modernen Rationalismus.
In der Inszenierung setzt Renoir auf kühle und klare Bilder, die er immer dann, wenn Opale ins Spiel kommt, kontrastieren lässt mit bewegtem Licht- und Schattenspiel, das unschwer als Hommage an den deutschen Filmexpressionismus zu erkennen ist. Letztlich ist es aber vor allem Hauptdarsteller Jean-Louis Barrault, bekannt als Baptiste Debureau in „Kinder des Olymp“ (1945), der den Film mit einer genialen Interpretation seiner Doppelrolle trägt und zum Meisterwerk macht. Ein eher sparsames Make-up, im Wesentlichen aus einer zerzausten Perücke und ausgestopften Wangen bestehend, reicht, um ihn in der Rolle des Opale nicht wiedererkennen zu lassen. Es sind vor allem die Bewegungen des erfahrenen Pantomimen Barrault, die wesenskonstituierend für Opale sind, eine formvollendete Mixtur aus konvulsivischer Getriebenheit und tänzerischer Leichtigkeit mit deutlich herausgearbeiteten chaplinesken Anklängen. Entsprechend erscheint Opale weniger als Psychopath, sondern eher wie ein böser Clown, der Müttern die Kinder raubt und Behinderten die Krücken wegtritt.
Wir bekommen die Geschichte weitgehend aus der Sicht von Maître Joly (Teddy Bilis) präsentiert, Notar und enger Freund von Cordelier, der – wie auch alle anderen Beteiligten – zunächst keine Ahnung von der Doppelidentität Cordeliers hat und Opale als außenstehenden Charakter auffasst, der gefährlich in die integre Bürgerwelt seines Freundes einzudringen droht. Erst durch Erzählungen und Tonbandaufzeichnungen Cordeliers und entsprechende Rückblenden erschließt sich die Wahrheit. „Das Testament des Dr. Cordelier“ ist eher als groteskes Drama zu sehen als dem Horrorgenre zuzuordnen und besticht auch heute noch durch seine schnörkellose und bis ins letzte Detail feinziselierte Inszenierung.