The Living Dead Girl

living_dead_girl01.jpgIn der retrospektiven Betrachtung sieht sich der französische Regisseur Jean Rollin spätestens seit seinem bizarr abstrakten, symbolistischen Alterswerk „La Fiancée de Dracula“ („Draculas Braut“) von 1999 längst befreit aus der reinen Euro-Trash- und (S)Exploitation-Schublade. Seine Filme werden heute unter dem Gesichtspunkt des Autorenfilms einer Neubewertung unterzogen – eine Image-Entwicklung, die der des „New-Flesh“-Filmers David Cronenberg vergleichbar ist. Dass einige seiner oftmals schnell und billig abgekurbelten Werke wie der unsägliche „Le Lac des morts vivants“ („Sumpf der lebenden Toten“, 1980) neue Tiefpunkte des Zombiefilm-Genres ausgelotet haben und er ferner zwecks Gelderwerb in den 70ern einige Pornofilme abdreht hat, wird ihm dabei gerne verziehen, zumal letztere bei Rollin stets unter der Flagge der linksgerichteten sexuellen Befreiung segelten.

Jean Rollin wurde 1938 als Sohn eines Theaterdirektors geboren und war so schon von Kindheit an mit dem klassischen französischen Boulevard- und Operettentheater vertraut. Außerdem begeisterte er sich schon in jungen Jahren für fantastische Literatur, aber auch für amerikanische B-Movies und den französischen Expressionismus. All diese Einflüsse finden sich in seinen „mit der Kamera gemalten“ Filmen wieder, die – eine weitere Leidenschaft von Rollin – genau wie seine bislang rund zehn Romane und Novellen fast immer in irgendeiner Form den Vampirmythos variieren. Da seine Filme stets auch eine starke erotische Komponente beinhalten und stets viel nackte Frauen zu sehen sind, sah er sich in den 70ern schnell auf das Klischee „Sex-Vampir-Filme“ reduziert.

living_dead_girl02.jpgDie Filme von Jean Rollin polarisieren: Entweder man liebt sie und ist von ihnen fasziniert oder man findet sie schlicht langweilig. Fest steht: Wem eine stringente und fesselnde Story wichtig ist, der sollte von Rollin Abstand nehmen – hier gibt es, wenn nicht beim Stil, so doch in der Arbeitsweise sicher Parallelen zum Giallo-Großmeister Dario Argento, dem die suggestive Macht seiner Bilder auch stets wichtiger war als ein ausgeklügeltes Storyboard.

„La Morte Vivante“ („The Living Dead Girl“, auch unter dem deutschen Verleihtitel „Lady Dracula“ erschienen) entstand 1982 und war kommerziell besehen einer der größten Erfolge für Rollin. In Kritiken kommt der Film nur selten gut weg, was meiner Meinung nach auf den Ausnahme-Status dieses Films im Œuvre von Rollin zurückzuführen ist und die damit verbundene Erwartungshaltung des Rezipienten, die in diesem Falle fast immer enttäuscht wird: Splatterfreaks und Gorehounds ist der Film zu langsam, zu poetisch, zu melodramatisch, eingefleischte Fans des Meisters lehnen den Film wiederum als zu kommerziell und konventionell, nicht typisch und hinreichend „rollinesk“ ab. Und wer schließlich ein romantisches Gruseldrama erwartet, sieht sich geschockt von teils sehr blutigen und brutalen Szenen.

Der Film lässt es schon in den ersten Minuten richtig krachen: Drei Kleinganoven verbringen Fässer mit giftigen Chemikalien in eine Gruft, in der sich, merkwürdig surreal von flackernden Fackeln illuminiert, zwei Särge befinden: Hier liegen Catherine Valmont und ihre Mutter. Ein Erdbeben stürzt eines der Fässer um, und die sich entwickelnden toxischen Dämpfe bewirken, dass Catherine wieder zum Leben erwacht. Mit diesem Anfang und dem nachfolgenden, äußerst gewaltsamen Tod der drei Männer bedient Rollin typische Klischees des Zombiefilms, um in den nächsten Szenen eine absolute Kehrtwendung zu machen: Catherine sucht ihre frühere Heimat auf, das Schloss der Familie, und wandelt, in traumhaft anmutenden Einstellungen, apathisch und wie in tiefer Trance durch die Räume.

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Die Emotionen kommen zurück: Catherine in den Räumen ihrer Kindheit.

Erinnerungen an ihre Kindheit – eine Puppe, ein altes Foto, eine Spieldose – beleben allmählich ihr Bewusstsein: In Flashbacks (von Rollin sensibel zunächst ohne Ton umgesetzt) entsteht das Bild einer intensiven Kinderfreundschaft. Catherine und Hélène sind unzertrennbar, und wir sehen, wie sie sich ewige Freundschaft schwören und den Schwur mit dem Mischen ihres Blutes besiegeln: „Wenn du vor mir stirbst, dann werde ich dir folgen.“

Besagte Hélène trifft auch bald, von einer längeren Auslandsreise zurückgekehrt, am Schauplatz ein. Es erwartet sie ein Bild des Grauens: Auf der Eingangstreppe und im Empfangszimmer liegen die Leichen der von Catherine umgebrachten und ausgesaugten Hausmaklerin und ihres Freundes, Catherine selbst sitzt stumm, autistisch, nackt und blutüberströmt am Flügel, in den Händen die Spieldose von einst. Die Situation missverstehend, sieht Hélène ihre Freundin zunächst als Opfer, hält aber auch zu ihr, als ihr die Wahrheit dämmert. Sie lässt die Leichen verschwinden, und … sorgt für neue Opfer, als sie erkennt, dass Catherine menschliches Blut braucht, um zu leben. Dass ihre Freundin tot ist, dieser Erkenntnis will und kann sie sich nicht stellen.

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Es ist angerichtet: Hélène übertreibt ihre Fürsorge entschieden.

Der Film skizziert nun – immer mal wieder mit Splattereinlagen – eine langsame und subtile psychische Verwandlung, die zweifach und entgegengesetzt verläuft. Catherine findet ihre Sprache zurück und wird sich in immer stärkerem Maße der Monstrosität ihrer Existenz und ihrer Taten bewusst (was ein wenig an Draculas Tochter erinnert). Hélène hingegen entwickelt sich zum wahren Monster dieses Films; schon bald ist offensichtlich, dass sie eher mordet, um den dunklen Seiten ihres eigenen Ichs Tribut zu zollen, als um ihrer Freundin zu helfen. Diese verweigert weitere Bluttaten, lässt sogar eine junge Frau frei, die Hélène entführt hatte, und versucht sich schlussendlich im Schlossteich zu ertränken, wird aber von Hélène gerettet.

Das Finale ist erschütternd. Hélène erkennt, dass ihre Freundin nur Frieden finden will – und es wird ihr klar, dass Catherine tatsächlich bereits tot ist. Zeit, die Konsequenz aus dem Schwur von einst zu ziehen: „Wenn du zuerst stirbst … dann muss ich dir folgen.“ In einem grauenerregenden Schlachtfest fällt Catherine über ihre Freundin her, zerbeißt ihre Kehle, trinkt ihr Blut und isst ihr Fleisch, um schließlich mit markerschütternden Schreien des Entsetzens und der unsagbaren Trauer in Desperation und Wahnsinn zu versinken, während die Kamera in einem langen Zoom-out von ihr wegfährt und schließlich der Abspann erscheint. Es ist die antagonistische Entsprechung zur identisch umgesetzten Schlüsselszene am Anfang der Begegnung der beiden Freundinnen, in der Hélène die noch stumme Catherine von ihrem Blut reinwäscht. Françoise Blanchard, die das „Living Dead Girl“ in allen Facetten der Entwicklung perfekt verkörpert, kann sich noch heute gut an die Szene erinnern, in die sie sich bei den nächtlichen Dreharbeiten so hineingesteigert hatte, dass ihr hysterischer Anfall und ihre konvulsivischen Muskelzuckungen letztlich echt waren. „Ich war für den Bruchteil einer Sekunde tatsächlich im Begriff, sie [Marina Pierro] umzubringen.“

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The Living Dead Girl: Am Ende stehen Desperation und Wahnsinn.

Beeindruckende, große Filmkunst und schrillster Trash – für Jean Rollin sind dies keine unvereinbaren Gegensätze, sondern gleichwertige Elemente seiner Filme. „The Living Dead Girl“ ist nicht so poetisch surreal wie viele seiner anderen Filme, sondern ist mit der relativ linearen Handlung und den als Tribut an die damals grassierende Zombiefilm-Welle zu verstehenden drastischen Gore-Effekten eher mit seinem fünf Jahre zuvor entstandenen „Pestizide – Grapes of Death“ („Les Raisins de la Mort“) vergleichbar. Ein Film, der sicher seine Schwächen hat – das „investigative“ amerikanische Touristenpaar etwa nervt nur und trägt zum Film sonst nichts bei, wer will, kann auch einige B-Film-typische Goofs entdecken. Als Horrorfilm ragt „The Living Dead Girl“ aber aus den genretypischen Produktionen seiner Zeit deutlich heraus. Der Film bricht auf interessante Weise mit der Regel, dass Frauen in diesem Filmgenre nur als Opfer eine Rolle spielen, und führt nicht zuletzt die klassische Trennung zwischen Vampir und Zombie ad absurdum – was Puristen Rollin durchaus verübelt haben.

living_dead_girl05.jpgDeutschsprachig ist der Film – nebst einigen teilweise verbotenen (Beschlagnahmebeschluss) VHS-Veröffentlichungen – in der „Red Edition“ von Laser Paradise auf DVD erschienen, die Qualität ist aber bescheiden und das Bild ist übermäßig gemattet, um es auf 16:9-Format zu trimmen, so dass wichtige Bildinformationen fehlen und teilweise am oberen Rand Köpfe abgeschnitten sind. Die bessere, leider nicht ganz preiswerte Wahl ist die relativ neue Collectors Edition von Encore, die auf zwei DVDs und einer CD in prachtvoller Aufmachung umfangreiches Zusatzmaterial bietet, unter anderem Interviews mit Jean Rollin und Françoise Blanchard, und den Film selbst in kristallklarer Qualität präsentiert. Einen direkten Kauflink kann ich für einen indizierten Film nicht angeben; im anmeldepflichtigen FSK-18-Bereich von Filmundo wird der geneigte Interessent aber sicher fündig werden.

The Living Dead Girl / Lady Dracula (La Morte Vivante), Frankreich 1982; Regie: Jean Rollin; Darsteller: Françoise Blanchard (Catherine), Marina Pierro (Hélène), Mike Marshall (Greg), Carina Baron (Barbara Simon) u.a. – Farbe, 87 min, FSK ungeprüft, indiziert.



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