Der Leichendieb

Der Leichendieb»Durch Fehler und Irrtümer vervollkommnet sich der Mensch. Durch das Leid aber lernt er. Alle Wege der Erkenntnis beginnen in der Finsternis und führen zum Licht.« (nach Hippokrates – Texttafel im Filmabspann)

Finsternis und Licht. Licht und Schatten. „Wie ich es zeige, so ist es“, hat Regisseur Robert Wise (1914–2005) immer gerne gesagt. Aber er hat auch gesagt: „Ich habe immer den Schwarzweiß-Film bevorzugt, weil man – so anachronistisch das klingt – hier mehr Farbigkeit entwickeln kann. Stummfilme zeigen das besonders deutlich. Man spricht in der Filmgeschichte oft vom ‚Rembrandtschen Schwarzweiß‘ und meint ganz einfach die verschiedenen Schattierungen von schwarz über verschiedene Graustufen nach weiß. Und das dient mehr der einfachen klaren Bildsprache als einer künstlerischen Forderung. Für mich ist die Wirklichkeit schwarzweiß.“

Die Wirklichkeit in „Der Leichendieb“: Das ist das graue und dunkle Edinburgh von 1832, in dem der angesehene Arzt Dr. Wolfe MacFarlane (Henry Daniell) seine Studenten unterrichtet. Er ist beseelt vom Feuer der Wissenschaft, so sehr, dass er das Anliegen der jungen Mutter Marsh, ihre seit einem Kutschunfall gelähmte Tochter Georgina zu operieren, abschlägt – er will seine Zeit lieber seinen Studien und dem Unterrichten widmen. Als Doktor der Anatomie braucht er hierfür immer wieder frische Leichen, die ihm der dubiose Kutscher John Gray (Boris Karloff) gegen einen entsprechenden Obolus gerne beschafft. Donald Fettes (Russel Wade), Student und frisch ernannter Assistent von Dr. MacFarlane, wird in die illegale Form der Leichenbeschaffung schnell eingeweiht und arrangiert sich damit – um dem kleinen Mädchen zu helfen, macht er sich sogar persönlich bei Gray stark, doch noch eine weitere Leiche zu beschaffen, denn MacFarlane hat nun doch in die Operation eingewilligt, braucht aber vorher „Studienmaterial“. Ohne es zu wissen, lässt er damit die Lage eskalieren, denn da die Friedhöfe unterdessen bewacht werden, bringt Gray eine junge Bettlerin um (deren sehnsüchtige Gesänge schon vorher im Film fatalistische Glanzpunkte setzten).

Natürlich ist die Produktion von Val Lewton von 1945 in erster Linie ein Gruselfilm wie so viele aus der Zeit, der alle Ingredienzien, die man von solcherlei Filmen erwartet, mit sich bringt: von ihrer Mission besessene Wissenschaftler, dunkle, neblige Friedhöfe, verräucherte Spelunken, enge Gassen, zwielichtige Gestalten. Und auch schon in der Bedienung dieser Genreklischees ist der Film meisterhaft: In expressionistischer Weise und mit raffinierten Kameraschnitten setzt Robert Wise Licht, Schatten, Regen und Nebel zur Schaffung einer Atmosphäre ein, die einen das alte Edinburgh als wahrlich trostlosen Ort empfinden lässt.

Der Leichendieb
Gespenstisches Edinburgh: Spiel mit Licht und Schatten.

Was den Film über den Durchschnitt hinaushebt und ihn zu einem wirklich guten Film macht, ist zweierlei: Zum einen ist die Story, die auf eine Kurzgeschichte von Robert Louis Stevenson zurückgeht, nur auf den ersten Blick lapidar, tatsächlich aber birgt sie mannigfaltige interessante Wechselbeziehungen bis in die Nebenfiguren hinein – wir erfahren etwa, dass auch die Haushälterin von Dr. MacFarlane, mit der er eine Liebesbeziehung hat, von Gray an MacFarlane herangeführt wurde – und berührt eine ganze Reihe zeitloser Topoi: Der ethische Unterbau – darf ein Arzt Straftaten für einen höheren Zweck begehen? – korrespondiert mit der Goethe’schen Ballade vom Zauberlehrling. Gray ist der böse Geist, den MacFarlane rief und den er nicht mehr loswird: „Jetzt, wo der große Dr. MacFarlane nach meiner Pfeife tanzen muss, jetzt bin ich wer. Und wenn das aufhört, hört alles für mich auf!“ Und schließlich ist da noch die Geschichte des kleinen Mädchens, an der deutlich wird, dass MacFarlane zwar ein guter Chirurg sein mag, ihm aber das moralische Rüstzeug zum guten Arzt fehlt: Obgleich erfolgreich operiert, vermag das Mädchen immer noch nicht zu laufen, weil es weiterhin Angst vor Schmerzen hat und psychisch nicht auf die Heilung vorbereitet wurde. Frustriert darüber, ertränkt MacFarlane seine Enttäuschung im Alkohol, während sich um ihn herum die Ereignisse zuspitzen: Gray hat mittlerweile den Gehilfen Joseph (eher blass: Bela Lugosi) umgebracht, der versucht hatte ihn zu erpressen.

Der Leichendieb
Das personifizierte Böse: Boris Karloff bringt neue Ware.

Zum anderen: Boris Karloff spielt den Kutscher Gray schlicht großartig: Er ist Todesbote und Wanderer zwischen den Welten, zu Hause im Ärztehaus wie auch in der Gosse. Er ist liebevoll besorgt um das kleine Mädchen, behandelt den Arzt mit beißendem Sarkasmus und begegnet dem jungen Assistenten mit formvollendeter, wenngleich diabolischer Höflichkeit. Er verkörpert das abgrundtief Böse und zeigt doch mehr Emotionen als der steife Arzt, überspitzt dargestellt etwa in der Szene, in der er mit der einen Hand Joseph erwürgt, während er mit der anderen Hand die vorbeilaufende Katze streichelt.

Der Leichendieb
Schattenprojektion mit Katze: MacFarlane befreit sich von seinem Peiniger.

Zuletzt kommt Gray selbst zu Tode, erschlagen durch MacFarlane – die finale Konfrontation setzt Robert Wise wieder äußerst eindrucksvoll als Schattenspiel um, welches über der auf der Kommode sitzenden Katze an die Wand geworfen wird. Doch als böser Geist lebt Gray weiter, und MacFarlane, der sich nun selbst Leichen beschafft, kommt auf einer irrwitzigen Kutschfahrt – Hurra! Die Toten reiten schnell! – ums Leben, erleidet ironischerweise also das gleiche Schicksal, dem das kleine Mädchen Georgina – das durch ihren eigenen Willen schließlich doch wieder laufen kann – nur um Haaresbreite entgangen ist.

„Der Leichendieb“ ist ein kleines Juwel unter den Horrorfilmen der 40er Jahre und sicher einer der literarischsten und tiefgründigsten unter ihnen. Gleichzeitig zeigt der Film, zu welchen herausragenden schauspielerischen Leistungen Boris Karloff fähig war, wenn nur Rolle und Skript stimmten. Darüber hinaus weiß der Film als expressionistische Regiearbeit eines noch jungen Robert Wise zu überzeugen und hat schließlich auch heute noch Gültigkeit als Moritat über Wille und Verantwortung, Schuld und Ethik.

Der Leichendieb (The Body Snatcher), USA 1945; Regie: Robert Wise; Darsteller: Boris Karloff, Bela Lugosi, Henry Daniell, Russel Wade u.a. – s/w, 70 min, FSK 12.


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