Das deutsche Kettensägenmassaker

Das deutsche Kettensägenmassaker„Das deutsche Kettensägenmassaker – die erste Stunde der Wiedervereinigung“: Schlingensiefs blutige Abrechnung mit dem 3. Oktober 1990, die er mit seinem altbewährten Schauspielerstamm Brigitte Kausch, Alfred Edel, Volker Spengler, Karina Fallenstein, Susanne Bredehöft u.v.a. auf dem alten Thyssen-Industriegelände in Mülheim abgedreht hat, verbindet die Thematik der deutschen Wiedervereinigung mit der Trashkultur von Splatterfilmen.

Die „Story“ des recht kurzen Films (63 Minuten) ist schnell erzählt: Die Leipzigerin Clara (Karina Fallenstein) fährt am 3. Oktober in den Westen (der sich auf dem Mülheimer Thyssen-Gelände in morbider Gründerzeit-Industrieromantik präsentiert), wo auf eine mordlustige Metzgerfamilie mit Ossi-Hass stößt und in eine bizarre Welt aus Mordlust, Sex-Perversionen und Leidenschaft gerät. Scheinbar sinnlos fahren ein Trabbi und ein als Cabriolet aufgeschnittener alter Mercedes-Benz mit entsprechender Ossi-Wessi-Besatzung auf dem Gelände hin und her. Die beiden Parteien begegnen sich, fliehen voreinander, und es gibt viele Splattereinlagen, abgetrennte Gliedmaßen, Gedärm, Blut. Allerdings, immer sind die Tricks als Tricks erkennbar, teilweise werden sie sogar absichtlich als solche entlarvt; der „Reißverschluss am Rücken des Monsters“, wie Stephen King sich ausdrücken würde, bleibt immer sichtbar. Absicht oder Tugend aus der Low-Budget-Not?

„Teils, teils“, erklärt Christoph Schlingensief. „beispielsweise, wenn sich Claras Freund [dessen Gesicht kurz zuvor Bekanntschaft mit einem Schlachterbeil machte – Anm. d. Verf.] sein blutiges Make-up plötzlich vom Gesicht reißt, dann deshalb, weil es wegen der Kälte Minuten später sowieso abgefallen wäre. Andererseits will ich den Zuschauer auch bewusst immer wieder ‚herunterholen‘; der Film soll schließlich mehr beinhalten als nur vordergründige Schockeffekte.“

Christoph Schlingensief
Blutiges Gemetzel: Christoph Schlingensief 1990 mit Kamera und Kettensäge.

Es ist sein siebter 16-mm-Film, gefördert von der kulturellen Filmförderung des Landes NRW, und 1990 ausgezeichnet auf den 24. Hofer Filmtagen, einem der wichtigsten Filmfestivals für den neuen deutschen Film. „Das deutsche Kettensägenmassaker – Die erste Stunde der Wiedervereinigung“ ist eine Mischung aus perfidem, auf groteske Bilder und Situationen aufbauendem Humor in der Tradition von Herbert Achternbusch und von Dada-, Grand-Guignol- und Performance-Elementen; gleichzeitig gemahnt der schrille Streifen an den B-Movie-Trash amerikanischer Filmemacher wie Russ Meyer. Und, die Untertitel deuten es schon an, es ist die konsequente Fortsetzung seines 1989er Film „100 Jahre Adolf Hitler – Die letzte Stunde im Führerbunker“. Der Hitlerfilm, aufgenommen in 16 Stunden in einem alten Mülheimer Bunker, zeigt einmal mehr die Banalität des Bösen: Nicht die Tatsache, dass der gesamte NS-Führungsstab langsam in den Wahnsinn abdriftet, ist das Erschreckende, sondern dass trotz allem noch die Tischsitten funktionieren. Die Inhalte zerfallen, die Formen bleiben bestehen: Zuletzt, nach Hitlers Selbstmord, klebt sich Eva Braun ein falsches Hitlerbärtchen an und verkündet ein neues Matriarchat, welches von der verbliebenen Führungsclique selbstverständlich akzeptiert wird. Der Formalismus muss weitergehen, es kommt auf das Etikett an, nicht darauf, was es etikettiert.

Das Etikett „Hitlerbart“ wird im „Kettensägenmassaker“ durch das Etikett „Wurstwaren“ ersetzt, welches wiederum „Blut“ assoziiert und letztlich zur Kettensäge führt – der Titel und auch die Struktur der mordenden Familie ist natürlich eine unverhohlene Hommage an „The Texas Chainsaw Massacre“, jenen Horrorfilm, mit dem Tobe Hooper 1974 das Genre neu definierte. Wobei nach Schlingensiefs Logik die trivialen Brutalo-Horror-Bilder des Films eine gewisse Kohärenz zur Trivialität des Wiedervereinigungsvorgangs aufweisen, und das im Film freudig praktizierte Abschlachten von Ossis nicht unendlich weit von damals vorhandenen Ossi-Ressentiments entfernt ist. Kontrastierend hat Christoph Schlingensief seinem Film etwa drei Minuten Dokumentarmaterial von den Berliner Festlichkeiten zum 3. Oktober vorangestellt. Pathos, würdevolle Politikergesichter und die deutsche Nationalhymne als Einstimmung zur Kettensäge.

„Ja, da ist die Welt noch in Ordnung“, meint Christoph Schlingensief: „Noch hat keiner gemerkt, dass sich ganz dicht hinter dieser Fassade Blut und Morast verbergen, noch ist nichts vom allgemeinen Zerfall zu merken. Aber wir werden ihn noch zu spüren bekommen, das steht selbstverständlich fest.“

Im „obszönen Akt der Wiedervereinigung“ (J. Habermas) sieht Schlingensief eher eine „Wiederzerstückelung“ Deutschlands, also eine rigorose Verschärfung sozialer Spannungen und Gefälle. Daher halbiert er in seinem Film tatsächlich Menschen, und lässt sie in halbiertem Zustand „Die Gedanken sind frei“ singen. Der goldene Westen ist hier rot, eine Schlachterhölle, in der zwischen blutbespritzten Kacheln leckere Würste hängen. Einigkeit und Mett und Freiheit. Doch sollte man nicht den Fehler machen, den Film in dieser Richtung überzuinterpretieren, denn Schlingensiefs Filme fahren zweigleisig: Einerseits werden Inhalte, oft auch politische, in nervenzerrender Symbolik verwurstet, andererseits ist es aber auch reines Experimentalkino, welches vor allem auf das spontane Agieren der Schauspieler setzt. Und Schlingensiefs Akteure haben viel zu leiden: Sie werden sechzehn Stunden in einen kalten Bunker eingesperrt, mit Blut übergossen und anderen extremen Drehbedingungen ausgesetzt.

Das deutsche Kettensägenmassaker
Der Westen ist blutig. Allegorien mit viel roter Farbe.

„Den Schauspielern wird in der Tat viel zugemutet. Wenn ich ein Drehbuch schreibe, steht darin vielleicht nicht schon unbedingt jedes Detail fest, aber die Atmosphäre der jeweiligen Szene ist mir in der Regel schon genau vor Augen. Oft spiele ich den Schauspielern auch bei den Dreharbeiten vor, wie ich die Szene genau meine. Ich verlange schon 100-prozentigen Einsatz, dass die Schauspieler in der Szene völlig aufgehen.“

„Wer schreit hat recht“, lautet der Untertitel von Schlingensiefs 88er Film „Mutters Maske“, und tatsächlich verstummt in seinen Filmen jedes ruhige Gespräch, jede inhaltliche Auseinandersetzung nach einiger Zeit, um einem rein intuitiv-expressiven Agieren und Reagieren Platz zu machen. Und das heißt bei Christoph Schlingensief immer: Geschrei und Hysterie.

„Eigentlich ist ‚Hysterie‘ einer der Schlüsselbegriffe, der sich durch alle meine Filme zieht. Ich denke, dass die Hysterie eine völlig normale menschliche Ausdrucksform ist, eine gesunde Abwehrreaktion auf die Zwänge des Alltags.“

Diese Hysterie setzt Schlingensief in seinen Filmen in einen martialischen Expressionismus um, der den Zuschauer mit keulenschweren Symbolen beutelt, um ihn immer wieder mit augenzwinkernder Ironie zu versöhnen. „Für das deutsche Kino ist er keine Hoffnung, sondern eine Prophezeiung: Die Fernsehspiele vergehen, Schlingensief wird bleiben“, schrieb die ZEIT anlässlich der Premiere 1990. Der rabiaten Überzeugungskraft einer Kettensäge kann sich eben niemand entziehen.

Das deutsche Kettensägenmassaker, D 1990; Regie: Christoph Schlingensief; Darsteller: Alfred Edel, Karina Fallenstein, Brigitte Kausch, Udo Kier u.a. – Farbe, 60 min, FSK 16.

Die Zitate von Christoph Schlingensief stammen aus einem Interview, welches ich 1990 mit ihm führte.


Beitrag veröffentlicht

in

von

Schlagwörter: